Von Verletzlichkeit zur Stärke: Wie Führungskräfte Vertrauen aufbauen, indem sie ihre menschliche Seite zeigen
- Carsten Diederich
- Sep 4
- 4 min read

Einleitung: Das missverstandene Konzept der Verletzlichkeit
Wenn man zehn Führungskräfte fragt, was Verletzlichkeit bedeutet, bekommt man oft Antworten, die von Unbehagen geprägt sind. Für viele steht das Wort für Schwäche, Unsicherheit oder gar Versagen. Führungskräfte sind es gewohnt, die Fäden in der Hand zu halten – souverän, entscheidungsstark, kontrolliert.
Doch hier liegt das Paradox: Die Führungspersönlichkeiten, die uns am meisten geprägt haben, waren selten die unantastbaren Helden ohne Fehler. Es waren diejenigen, die uns ihre Menschlichkeit gezeigt haben. Sie haben zugegeben, dass sie nicht auf alles eine Antwort hatten. Sie haben ihre Ängste und Hoffnungen geteilt. Sie haben uns spüren lassen: Stärke bedeutet nicht, eine Rüstung zu tragen – Stärke bedeutet, echt zu sein.
Ich erinnere mich noch gut an einen Moment in meiner eigenen Laufbahn, als ich an einem Scheideweg stand – unsicher und verletzlich. Es fühlte sich riskant an, dieses Gefühl meinem Team gegenüber einzugestehen. Doch die Reaktion war nicht Ablehnung, sondern Verbindung. Mein Eingeständnis schwächte nicht das Vertrauen, sondern vertiefte es. Seitdem weiß ich: Verletzlichkeit ist kein Risiko, das man vermeiden sollte. Sie kann eine der größten Ressourcen einer Führungskraft sein.
Warum Verletzlichkeit in Führung wichtig ist
Klassische Führungsbilder stellen oft den fehlerlosen Performer in den Mittelpunkt: rational, konsequent, immer im Griff. Lange Zeit mag dieses Bild funktioniert haben – oder zumindest den Anschein erweckt. Doch in einer Welt voller Unsicherheit, Komplexität und ständiger Veränderungen verliert diese Illusion an Wert.
Denn Menschen folgen nicht den perfekten Leadern. Sie folgen den menschlichen.
Wenn Führungskräfte den Mut haben, verletzlich zu sein, dann:
entsteht Vertrauen. Authentizität schafft Glaubwürdigkeit. Menschen vertrauen, wenn sie spüren, dass ihr Gegenüber echt ist.
wächst Verbindung. Ein ehrliches „Ich weiß es gerade nicht, aber wir finden den Weg gemeinsam“ wiegt mehr als jede perfekte Rede.
entsteht Offenheit. Wer selbst unvollkommen auftritt, erlaubt auch anderen, ihr wahres Ich zu zeigen.
Im Modell des Secure Base Leadership spricht man von „Care, Dare, Share“. Fürsorge zeigen, herausfordern, und – teilen. Dieses Teilen ist der Moment, in dem eine Führungskraft ihre Menschlichkeit sichtbar macht. Es ist der Unterschied zwischen einer transaktionalen und einer transformierenden Führung.
Das Paradox: Verletzlichkeit als Stärke
Es klingt widersprüchlich: Indem wir unsere „Schwäche“ zeigen, beweisen wir echte Stärke.
Was ist mutiger – so zu tun, als hätte man alle Antworten, oder offen zuzugeben, dass man sie nicht hat? Was inspiriert mehr – eine makellose Fassade oder die ehrliche Erkenntnis aus einem Fehler?
Beispiele, wie Verletzlichkeit Stärke zeigt:
In Krisenzeiten. „Ich weiß nicht, wie sich das entwickeln wird, aber ich verspreche, dass ich diesen Weg mit euch gehe.“
Im Feedback. „Ich brauche deine Sichtweise – vielleicht übersehe ich etwas.“
Im Coaching. Eine persönliche Geschichte der eigenen Unsicherheit kann Klienten ermutigen, selbst offener zu werden.
Verletzlichkeit heißt nicht, fragil oder überfordert zu sein. Es bedeutet, geerdet genug zu sein, um echt zu bleiben – ohne Maske, ohne Show.
Praktische Wege, Verletzlichkeit zu leben
Viele Führungskräfte fragen sich: Wie viel ist zu viel? Verletzlichkeit bedeutet nicht, alles preiszugeben oder die eigene Last auf andere zu übertragen. Es geht um eine bewusste Offenheit, die Vertrauen und Verbindung schafft.
Konkrete Ansätze:
Fehler eingestehen. Nicht verschweigen, sondern als Lernchance rahmen: „Ich habe mich hier geirrt. Das habe ich daraus gelernt – und so gehen wir weiter.“
Feedback erfragen. Eine der verletzlichsten und gleichzeitig stärksten Gesten: „Was könnte ich anders machen, um dir den Erfolg zu erleichtern?“
Persönliche Geschichten teilen. Nicht jedes Detail, aber genug, um Verbindung herzustellen: „Ich kenne das Gefühl der Unsicherheit – ich war selbst dort.“
Gefühle benennen. Statt „Alles bestens“ zu sagen, bewusst ausdrücken: „Ich bin besorgt, aber gleichzeitig auch hoffnungsvoll. Beides gehört dazu.“
Balance vorleben. Zeigen, dass man selbst Mensch ist – durch kleine Routinen wie Sport, Spaziergänge oder Zeit mit der Familie.
Diese Gesten schwächen keine Autorität – sie stärken sie. Sie signalisieren: „Ich bin sicher genug in mir selbst, um echt zu sein.“
Die Wellenwirkung von Verletzlichkeit
Die Wirkung von verletzlicher Führung reicht weit über die einzelne Person hinaus. Sie verändert ganze Teams und Kulturen.
Psychologische Sicherheit wächst. Wenn Leader die Maske ablegen, fühlen sich andere frei, es ebenfalls zu tun.
Innovation blüht. Nur dort, wo unfertige Ideen Platz haben, entsteht Neues.
Beziehungen vertiefen sich. Menschen begegnen einander nicht nur in Rollen, sondern als Menschen.
Resilienz steigt. Teams, die Ehrlichkeit gewohnt sind, erholen sich schneller von Rückschlägen.
Ich habe das in vielen Coachings erlebt: In dem Moment, in dem eine Führungskraft sich traut, verletzlich zu sein, verändert sich das Umfeld. Mut, Zusammenarbeit und Engagement steigen – nicht trotz der gezeigten Menschlichkeit, sondern wegen ihr.
Fazit: Ein Aufruf zum Mut
Verletzlichkeit ist selten der einfache Weg. Sie fordert uns heraus, Mauern einzureißen, das Risiko des Missverstanden-Werdens einzugehen und der Versuchung zu widerstehen, perfekt wirken zu wollen. Aber genau dieser Schritt macht Verletzlichkeit zu einer Superkraft der Führung.
Wahre Führung bedeutet nicht, alle Antworten zu haben. Sie bedeutet, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen gemeinsam wachsen können. Nicht Fehlerlosigkeit macht uns glaubwürdig, sondern der Mut, echt zu sein.
Beim nächsten Impuls, die Maske der Unverletzlichkeit aufzusetzen, frage dich:
„Wie sähe es aus, wenn ich in diesem Moment ganz als Mensch auftrete?“
Die Antwort darauf wird fast nie Schwäche sein. Sie wird tiefes Vertrauen, stärkere Beziehungen und eine Form von Führung hervorbringen, die Bestand hat.
Denn am Ende folgen Menschen nicht der Perfektion. Sie folgen Menschen.


